Pirschelbär und der Messerblock

Der Mensch im entfesselten KapitalismusEisenberg1

Von Bruno Rieb

Wie der entfesselte Kapitalismus die Menschen deformiert, hat einer zur Papier gebracht, der es wissen muss: Götz Eisenberg, seit über zwei Jahrzehnten Gefängnispsychologe in Butzbach. „Zwischen Amok und Alzheimer“ heißt sein Buch, das jetzt im Verlag Brandes & Apsel erschienen ist. Untertitel: „Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“.

Pirschelbär und der Messerblock

Götz Eisenberg ist ein genauer Beobachter. Sein Buch ist durchflochten mit dem, was er vom Balkon seiner Wohnung in Gießen aus oder bei Spaziergängen gesehen hat. Da sieht er die Mutter, die den Kinderwagen schiebt und dabei telefoniert. Das Kind schreit. „Auf die Idee, dass das Kind weint, weil es sich einsam fühlt und das Telefonieren als Missachtung empfindet, kam die Mutter offensichtlich nicht“, meint Eisenberg. Überhaupt die Kinderwagen. Früher waren sie so konstruiert, „dass die Blickrichtung des Kindes auf die Person wies, die den Wagen schob“, meist die Mutter, manchmal der Vater. „Von dort aus schweifte der Blick in die Welt, deren beruhigender Mittel- und Fluchtpunkt aber stets die Mutter oder der Vater waren.“ Und heute? „Die heute gängigen Kinderwagenmodelle sind dreirädrige Sportwagen, die mit größeren Rädern, Sicherheitsgurten und einer Bremse ausgestattet sind. Sie sind auf die Bedürfnisse der Erwachsenen ausgerichtet, und sollen das eilige Gehen oder sogar Joggen mit Kinderwagen ermöglichen.“ Das Kind sitzt so, dass es nur unter extremen Verrenkungen die Mutter sehen kann. Eisenberg: „Wir sehen: Die Konstruktion der Gegenstände nimmt Einfluss auf unseren Welt- und Menschenbezug, auf die Art und Weise, wie Bindungen zustande kommen oder verhindert und erschwert werden. Das Zeitalter der Bindungslosigkeit findet das ihm entsprechende Design, das dann seinerseits die Bindungslosigkeit weiter vorantreibt. Oder in Abwandlung eines berühmten Zitates von Marx: Das Design bestimmt das Bewusstsein.“ Als geradezu mörderisches Design identifiziert er Messerblöcke: „Ich habe die Fälle nicht gezählt, aber bei zahlreichen Tötungsdelikten im häuslichen Bereich, mit denen ich mich im Laufe meiner Arbeit im Gefängnis beschäftigen musste, kamen Messer zum Einsatz, die die Täter auf dem Höhepunkt einer verbalen und körperlichen Eskalation spontan aus einem solchen Messerblock zogen und dem Opfer in den Leib rammten. Es wäre ein in seiner Wirksamkeit nicht zu unterschätzender präventiver Akt, diese Messerblöcke aus den Küchen zu entfernen.“ Denn: „Müsste der Täter erst eine Schublade öffnen und in ihr nach einem geeigneten Messer suchen, würde der wie ein blinder Mechanismus sich abspulende Handlungsablauf unterbrochen. Jede noch so kurze Unterbrechung könnte dafür sorgen, dass der Täter zur Besinnung kommt.“

Kritische Theorie

Eisenberg steht in der Tradition der Kritischen Theorie und er ist belesen. Sein Buch ist voller Zitate. Aber es sind weniger die viel zitierten Marcuse, Bloch, Adorno, die das Buch so interessant machen. Es sind seine genauen Beobachtungen des Alltags. Die Digitalisierung unserer Welt ist ihm ein Gräuel. Er sitzt auf seinem Balkon, schaut ins Nachbarhaus und sieht dort Menschen mit Computern und Telefonen. „Auf dem Tisch steht ein aufgeklappter Laptop, eine der jungen Frauen hält einen Tablet-PC auf ihrem Schoß. Eine weitere Frau tritt in die offene Tür und telefoniert“. „Der ganz normale digitale Wahnsinn an einem lauen Juniabend.“

Es geht aber auch um die großen Fälle. Das Massaker an einem Gymnasium in Erfurt. Ein Schüler tötete zwölf Lehrer, zwei Mitschüler, eine Sekretärin und einen Polizisten. Eisenberg: „Die Halbwertzeit der öffentlichen Betroffenheit nach dem Massaker von Erfurt erweist sich als erstaunlich kurz.“ Psychosomatische Serientäter hält der Gefängnispsychologe aber nur für die „Extremvariante eines verbreiteten Phänomens“. Eisenberg: „Die weitaus größere Zahl von Psychopathen läuft frei herum und zeichnet sich teilweise sogar durch besonderen Erfolg im Beruf aus. Sie haben gelernt, aus ihrer Störung – Gefühlskälte und völlige Furchtlosigkeit – einen Vorteil zu machen. Sie zerstückeln niemanden – jedenfalls nicht körperlich – , sondern machen Karriere. Sie besitzen genau die Persönlichkeitsmerkmale, die man benötigt, um seinen Weg nach oben zu machen. Sie besitzen ein durch nichts zu erschütterndes Selbstbewusstsein, sie werden nicht von Selbstzweifeln und schlechtem Gewissen geplagt.“

Statt der skrupellosen Karrieristen hatte es einen unschuldigen Geschäftsmann erwischt: Gustl Mollath saß sieben Jahre lang zu Unrecht in der geschlossenen Psychiatrie. Erfolgreich hat er sich dagegen gewehrt. Eisenberg übermittelte ihm die „solidarischen Grüße“ einer Gruppe Butzbacher Gefangener. Mollath antwortete mit einem Zitat von Walter Kempowski: „Der Kluge gibt so lange nach, bis er der Dumme ist.“

Die Revolte und die Folgen
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Götz Eisenberg

Eisenberg, Jahrgang 1951, hat seine politische Sozialisation während der Jugendrevolte der späten 1960er und frühen 1970er Jahre erlebt. „Die Sehnsucht nach etwas, das meinem Leben Sinn geben könnte, hat mich in die Arme der antiautoritären Bewegung getrieben.“ Seinen Idealen ist er treu geblieben. „Das Recht auf Stille wird eine entscheidende Qualität einer neuen Gesellschaft sein, die sich vom Fetisch Wachstum verabschiedet hat und ihren Zusammenhalt nicht auf Konsum gründet. Wir benötigen stattdessen Tugenden des Unterlassens, Prämien aufs Nichtstun, Kontemplation statt Produktion, Faulheit statt rastlosem Tun.“ Der Kapitalismus hat sich Teile der Revolte einverleibt. Eisenberg: „Der Geist des Kapitalismus hat sich seiner Widersacher bedient, um zu sich selbst zu kommen und in seiner Erscheinungsweise seinem Begriff adäquat zu werden. Leute wie Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann haben durch ihre provokanten Auftritte viel dazu beigetragen, die versteinerten bundesrepublikanischen Nachkriegsverhältnisse zum Tanzen zu bringen. Letztlich hat sich die hedonistische, wenn man so will: narzisstische Fraktion der Revolte, die sich immer schon mehr für ihre Orgasmusschwierigkeiten als den Krieg in Vietnam interessierte, als Faktor der Modernisierung erwiesen. So entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass man Langhans heute im Dschungelcamp von RTL begegnet.“ Eine soziale Gesellschaft stellt sich Eisenberg so vor: „Eine Gesellschaft, die ihre soziale Integration und den zwischenmenschlichen Verkehr auf Formen solidarischer Kooperation gründet, statt auf einer letztlich a-sozialen Vergesellschaftung durch Markt und Geld, wird auch andere psychische Strukturen und andere Formen der Vermittlung von Psychischem und Gesellschaftlichem hervorbringen, für die uns Heutigen die richtigen Begriffe fehlen. Allenfalls wird man sagen können, dass der individuelle Selbstwert einen ausgeprägten Bezug zur Gemeinschaft aufweisen würde, in der der Einzelne in echter Solidarität aufgehoben wäre. Oder mit den Worten des Kommunistischen Manifest: Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der ‚die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‘.“

Das Buch ist eine Fundgrube, voller Ideen und Anregungen und voller diskussionswürdiger Thesen. Und dann ist da noch der Pirschelbär. Es geht um Namen, mit denen Eltern ihre Kinder sozial abstempeln wie Jaqueline und Kevin die Unter- oder Anne-Sophie und Leon-Bruno die Mittelschicht. Ein Kind wird in der Kita gefragt, wie es heißt, erzählt Eisenberg. „Pirschelbär“ antwortet der Junge den Erzieherinnen. Die mögen ihm nicht glauben. Der Kleine beharrt darauf. Eine Erzieherin ruft die Mutter an. „Pier Dschil-beer“ antwortet die und buchstabiert: „P-i-e-r-r-e G-i-l-b-e-r-t.“

Götz Eisenberg: Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“. 292 Seiten, Paperback, Verlag Brandes & Apsel, 24,90 Euro, ISBN 978-3-95558-108-4

3 Gedanken zu „Pirschelbär und der Messerblock

  1. Hallo Bruno! Deine Buchbesprechung „Pirschelbär und der Messerblock“ hat mir ausgesprochen gut gefallen und mich gereizt mir umgehend das Buch zu kaufen. Das habe ich getan und lese es jetzt mit sehr großem Interesse und heftiger Spannung. Ich habe selten so klare Beispiele einer sich ändernden „Kultur“ aufgezeigt bekommen, wie in diesem Buch. Jedoch: die elektronische Medienwelt erhält darin eine sehr klare Absage und so müsste ich, da leider nicht annähernd so klug und belesen wie der Autor, das Buch in einer Bibliothek studieren. Also beschränke ich mich auf das was ich verstehe und ob das dann für neue Erkenntnisse genug ist bzw. ausreicht wird mein Leben zeigen. Beste Grüße Rudolf
    (aus Seybothenreuth).

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